Laudatio

Johannes-Preis 2014

 

Der Untergang Küstrins im Jahre 1945

So beginnt auf der Homepage unseres Vereins ein Bericht über das wohl letzte große Kapitel in der Geschichte der Stadt Küstrin,

eine militärhistorische Zusammenfassung

des heute zu Ehrenden.

Sehr geehrter Herr Kohlase,

lieber Fritz.

Herzlich Willkommen!

In den letzten Monaten des Zweiten Weltkrieges beeinflußten vier Faktoren entscheidend den Untergang der damals unzerstörten, kleinen deutschen Industrie- und Garnisonsstadt:

 

  1. Teil der deutsch-sowjetischen Front zu werden, an der sich die größten und blutigsten Schlachten des Krieges abspielten.
  2. Seine Bedeutung als Eisenbahn- und Straßenknoten.
  3. Ein wichtiges Bollwerk der letzten deutschen Front vor der Reichshauptstadt Berlin zu sein.
  4. Das Verhalten der Roten Armee gegenüber der deutschen Zivilbevölkerung, das durch seine Unmenschlichkeit den deutschen Widerstand zusätzlich motivierte.

 

Das Schicksal machte diese Gegend an der unteren Oder zwischen der Mündung der Lausitzer Neiße im Süden und dem Hohenzollernkanal im Norden, im Westen die Seelower Höhen einschließend, zur umkämpftesten Weltkriegsregion des heutigen Deutschlands. Hier verlor die Rote Armee vom 31. Januar bis zum 18. April 1945 weit mehr als 50.000 Gefallene, 100-150.000 Verwundete und über 1.000 Panzer, Sturmgeschütze und Selbstfahrlafetten. Auch die deutschen Verluste waren schwer, wenn auch geringer als die ihres Gegners.

Durch den Zweiten Weltkrieg wurde Küstrin eine der zerstörtesten Städte Deutschlands und durch die neue Grenzziehung mit Ausnahme von Küstrin-Kietz, Kuhbrücken-Vorstadt und der Altstädter Oderinsel eine polnische Stadt. Wegen der furchtbaren Kriegszerstörungen bezeichneten die Polen die Küstriner Altstadt anfangs als polnisches >Hiroshima<, und deutsche Zeitungen ein halbes Jahrhundert danach als >brandenburgisches Troja<, das >Pompeji des 20. Jahrhunderts< oder >brandenburgisches Karthago<.

Auch den Lebenslauf von Fritz Kohlase beeinflußten diese Zeit und diese Gegend:

  • Geboren am 20. Oktober 1926 in Forst (Lausitz) im Stadtteil Berge als Sohn des Handelskaufmannes Max Kohlase und seiner Ehefrau Margarete.

  • 1933-1937 Besuch der Volksschule.

  • 1937-1943 Besuch der Mittelschule.

  • 1943 Dienstanfänger bei der Stadtverwaltung Forst (Lausitz)

  • 30. März 1944 Einberufung zur Wehrmacht in das Regenwurmlager bei Meseritz zur Stammkompanie Grenadier-Ersatz-Bataillon 188.

  • Mai-August 1944 bei der 2. Kompanie Grenadier-Feldausbildungs-Regiment 715 der 153. Feldausbildungs-Division / 6. Armee / Heeresgruppe Südukraine in Congaz in Bessarabien.

  • September 1944-Januar 1945 beim ULWK III in Wandern.

  • Dezember 1944 ROB-Gefreiter.

  • Januar-März 1945 abgebrochener Gneisenaueinsatz im Sternberger Höhen-land. Fußmarsch der ROB-Einheiten von Wandern bis zur Reichshauptstadt und S-Bahn-Marsch durch Berlin nach Döberitz zur neuaufgestellten 303. ID „Döberitz“. Mit dieser ins Oderbruch. Bei der Divisionsunterführerreserve in Neutrebbin, dann Gruppenführer in der 2. Kompanie des Füsilier-Bataillons 303 in Posedin.

  • Ab 19./20. März Einsatz im Raum Gut Alt Bleyen in der Schlauchstellung des Abschnittes Küstrin. Verwundungen: Am 26.3. Bruststeckschuß und am 29./30.3. Granatstecksplitter linke Kniekehle. Am 31. März 1945 mittags vermutlich der letzte Deutsche, der aus dem Küstriner Kessel in sowjetische Gefangenschaft geriet.

  • April-August 1945 sowjetische Kriegsgefangenenlager Lodz und Pulawy. Als in die Arbeitsgruppe 3 Eingestufter mit 50.000 deutschen Gefangenen Anfang September 1945 den Polen übergeben. Lager Pulawy, Kurow, Rejowiec und Warschau.

  • Februar 1949 über das polnische Entlassungslager Gleiwitz Rückkehr nach Deutschland und Entlassung des durch die Grenzveränderungen 1945 zum Heimatvertriebenen gewordenen aus dem Heimkehrerlager Fürstenwalde-Spree nach Malchow (Meckl.) zu der dorthin geflüchteten Mutter, den beiden Schwestern und der Großmutter. Sein Vater war seit Februar 1945, dem ersten Zusammentreffen mit Rotarmisten in Forst (Lausitz) vermißt.

  • 1949-1950 Tuchmacher-Umschüler im VEB Tuchfabrik Malchow.
  • 1950-1953 Studium der Fachrichtung Volltuch an den Textil-Ingenieur-Schulen Cottbus und Forst mit dem Abschluß als Textil-Ingenieur.
  • 1953-1956 im VEB Spremberger Textilwerke.
  • 22. Dezember 1954 standesamtliche Trauung mit Rosemarie Schulze.
  • 1955 Geburt der Tochter Kristin.
  • 1956-1962 Technologe im VEB Gubener Wolle.
  • 1957 Umzug der Familie nach Guben.
  • 1959 Geburt des Sohnes Gerd.
  • 1962-1980 Haupttechnologe im VEB Gubener Wolle.
  • 1980-1985 Projekt-Ingenieur im VEB Zentrales Projektierungsbüro der Textilindustrie.
  • 1986-1991 Technologe im VEB Gubener Wolle.
  • 1994 Umzug von Guben nach Sehnde in der Region Hannover.

Die Ereignisse der Jahre 1944 und 1945 waren von seltener Vielfalt, Dramatik und Einmaligkeit, ihre Auswirkungen auf die Geschichte der Welt, und vor allem Europas, gewaltig. Wer sie miterlebte, vergißt sie nicht. Vielen Menschen brachten sie den Tod oder unendliches Leid. Zeitzeugen berichteten darüber. Einer von ihnen war Fritz Kohlase.

Seine zuerst veröffentlichten Erinnerungen, „Mit dem Füsilier-Bataillon 303 in Küstrin – Erinnerungen aus den Jahren 1944 und 1945“, enthalten vorwiegend Erlebnisse eines Angehörigen der deutschen Wehrmacht im brandenburgischen Oderland. Der Hauptteil schildert das Ende der Oderfestung Küstrin. Aber alles aus der Sicht eines Mannschaftsdienstgrades, der wohl starkes Interesse an der Zeitgeschichte zeigte, doch nur begrenzte Informationsmöglichkeiten besaß. Deshalb erschien es ihm zweckmäßig, den Kampf um Küstrin – den er als „Ouvertüre zur Schlacht um die Seelower Höhen und damit zur Schlacht um Berlin“ bezeichnete – stärker zu skizzieren und den Erinnerungen voranzustellen.

Worauf stützten sich die Inhalte über eine Zeit, die mehr als ein halbes Jahrhundert zurücklag? Auf Notizen von Fritz Kohlase, der sie mit Daten und Namen in polnischen Gefangenenlagern auf Papier aus Zementtüten niederge-schrieben hatte. Anfang 1949 gelangten sie unter einer Deckadresse mit der Post nach Deutschland. Die Ausführungen beruhen weiter auf ausführlichen Gesprächen mit Überlebenden des Füsilier-Bataillons 303, der Küstriner Festungsbesatzung, Angehörigen weiterer Truppenteile, mit Zivilisten sowie der späteren Einsichtnahme in zahlreiche Dokumente. Die ersten Publikationen bewirkten Reaktionen anderer Küstrin-Überlebender, deren Berichte in den nächsten Büchern folgten.

Während des zweiten Großangriffes auf das zur Festung ausgerufene Küstrin hatte Fritz Kohlase davon geträumt, bei sich doch noch bietender Gelegenheit des Schicksals den Hintergründen der Ereignisse von 1945 nachgehen zu können. Doch bis dahin sollten noch Jahrzehnte vergehen. Nach der Heimkehr arbeitete er viel, um nicht zur ,,verlorenen Generation“ zu gehören. Eine lange Krankheit verschaffte ihm Muße für eine erste Aufarbeitung der gesammelten Fakten. Er lebte aber in der DDR. Hier gab es wohl bestens archivierte Dokumente und Bücher zu seinem Thema, aber keine Zugangsmöglichkeit für ihn als Privatperson. Wer als DDR-Bürger über Auseinandersetzungen zwischen der Roten Armee und der Wehrmacht publizieren wollte, konnte das meistens nur, wenn er bereit war, sich der Sprachregelung und den Grundsätzen der offiziellen DDR-Geschichtswissenschaft zu unterwerfen, und das bedeutete, auf eine optimale Objektivität zu verzichten. So kam die friedliche Revolution von 1989 gerade recht, um die Arbeit vervollständigen und in den Folgejahren abschließen zu können.

Literatur über die Ereignisse in Ostbrandenburg von 1945 ist spärlich und enthält nicht selten Fehler oder Lücken. Das betrifft vor allem DDR-Veröffentlichungen einschließlich der Übersetzungen sowjetischer Quellen. Fritz Kohlase hat ver-sucht, einige Fehldarstellungen zu berichtigen, einige Lücken zu schließen, ein kleines Stück Geschichte aufzubereiten.

Gedacht werden soll auch der deutschen Soldaten, die 1945 im Oderland ihr Leben ließen. Keiner von ihnen wollte sterben. Kaum ein Friedhof oder Denkmal erinnerte bis zur Wiedervereinigung im Jahre 1990 an sie. Die meisten wurden als Namenlose verscharrt an heute unbekannten Stellen.

Das Oderbruch gehört zu Brandenburg, und das wurde ein Teil der ehemaligen DDR. Deren kommunistische Regierung tat bis zum letzten Tag alles, die Gefallenen der Roten Armee zu ehren, ihre Leistungen zu verherrlichen und ihre Untaten zu verschweigen, die deutschen Kriegstoten aber der Vergessenheit anheimfallen zu lassen und ihre Handlungen negativ zu sehen oder zu schmähen. Die Mehrzahl der deutschen Gefallenen war den Befehlen ihrer Vorgesetzten in gutem Glauben gefolgt. Sie starben im Oderland auf deutscher Erde für die Heimat. Sie haben ein Recht darauf, nicht vergessen zu werden.

Und die heute Lebenden sollten sich verpflichtet fühlen, wenigstens einmal im Jahr dieser Toten zu gedenken und der Umstände ihres Sterbens. Daraus zu ziehende Schlußfolgerungen bleiben ihnen überlassen. Doch nachdenken sollten sie, denn es handelt sich um ein Stück unserer und damit auch ihrer deutschen Geschichte.

Heimatinteressierte hatten wiederholt dazu aufgerufen, persönliche Erinnerungen, insbesondere auch über die letzten Tage in der alten Heimat und über Flucht, Vertreibung und Zwangsarbeit nicht für sich zu behalten, sondern sie niederzuschreiben und als „bedeutsames Zeugnis unseres Lebens“ in das Archiv zu geben und sie der Öffentlichkeit zu erhalten. Genau das hat Fritz Kohlase über die militärischen Geschehnisse im nordwestschlesischen, märkischen und südpommerschen Oderland getan, frühzeitig, auf eigene Initiative, äußerst gründlich, und – das vor allem sei bemerkt – die Ergebnisse liegen nicht in einem Archiv, sondern sind in Buchform publiziert.

Es ist immer wieder die Frage, wer sich findet, den Mut und die Kraft aufzubringen, solche Bücher für einen letztlich kleineren Leserkreis herauszugeben.

Das erste Buch erschien bereits vor 21 Jahren; viele sind vergriffen. Sein großes abschließendes und zusammenfassendes Werk erschien 2011 mit dem Verlauf des militärischen Geschehens, in dessen Darstellung stets das Schicksal der Zivilbevölkerung eingeflochten ist.

Schon äußerlich erfreuen die Bücher: Bei den beiden letzten hält man ein gebundenes Buch in der Hand. Der Inhalt besticht durch Solidität, Abgewogen-heit und Sorgfalt in der Sache und im Urteil. Polemik und „Political Correctness“ sind dem Autor fremd. Die Sprache ist durchgängig prägnant und schlicht.

Die Texte sind stringent gegliedert. Alle Quellen – gedruckte gleichermaßen wie mündliche und vieler klug ausgewählter Zeitzeugen – werden nicht einfach hingenommen, sondern einer abgewogenen Kritik unterzogen. Ein umfangreicher Anhang bietet Lesehilfen, nach einheitlichem Grundmuster gestaltete Karten, Kriegsgliederungen, ein Findverzeichnis über alle Orte usw.

Publikationen von Fritz Kohlase:

  • Mit dem Füsilier-Bataillon 303 in Küstrin, 1993.
  • Küstrin – Aus der Geschichte der ehemaligen preußischen Festungsstadt, 1993.
  • 1945 – Als Küstrin in Trümmer sank – Ich war dabei, 1996.
  • Brennendes Oderland – Band 1 und 2, 1998.
  • Brennendes Oderland – Band 3, 1999.
  • Brennendes Oderland – Band 4, 2003.
  • 1945 – Als Küstrin in Trümmer sank – Ich war dabei, Überarbeitete, erweiterte und illustrierte 2. Auflage, 2006.
  • Brennendes Oderland, Überarbeitete und erweiterte 2. Auflage, 2011.

Auslandspublikation mit beträchtlichen Quellen aus den Büchern von Fritz Kohlase:

  • 2009 erschien in Groß Britannien von Tony Le Tissier,
    The Siege of Küstrin 1945 – Gateway to Berlin.
    deutsch: Die Belagerung von Küstrin 1945 – Das Tor nach Berlin, in Englisch.

Fritz Kohlase beendet sein Buch „Brennendes Oderland“ mit bemerkens-werten Vorschlägen für eine Erinnerungskultur, und man fragt sich schon, warum das Erinnern an das Brandenburg „hinter“ der Oder hier im Lande mehr als zwei Jahrzehnte nach der Wende so mager ist. Denkmalsaufschriften wie „Den Toten des Krieges und der Gewaltherrschaft“ seien unpersönlich und unglaubwürdig; denn sie vermieden bewußt die Nennung des Tätersystems.

Dem Land Brandenburg stünden drei Erinnerungsstätten gut an, für die Inschrif- ten vorgeschlagen werden: Ein großer Findling in der Landeshauptstadt zum eh-renden Gedenken an die Leistungen der berlin-brandenburgischen Frauen im und nach dem Weltkriege, einer auf den Seelower Höhen zum Gedenken an die gefallenen Deutschen und einer an der Oder in Küstrin-Kietz mit der Aufschrift: „Heute bilden Lausitzer Neiße und Oder die brandenburgisch-polnische Grenze. Teile Brandenburgs waren Jahrhunderte lang die Neumark, das Sternberger Höhenland und zuletzt auch die östliche Niederlausitz. Deren deutsche Zeit endete 1945 durch deutsche Schuld, sowjetische Greuel und russische Macht-politik.“

Es lohnt durchaus, darüber nachzudenken und sich mit den Motiven der Men-schen von damals zu beschäftigen. Allerdings darf dabei nicht vergessen wer-den, daß es Menschen einer anderen Epoche, eines anderen gesellschaftlichen Systems mit einer anderen Erziehung waren. Jede Ära erzeugt gute und schlech-te Eigenschaften. Aus dem, was früher schlecht war, sollten wir lernen, solches künftig zu vermeiden. Doch es lohnt, guten Eigenschaften nachzueifern. Und die gab es damals auch; vielleicht weit mehr, als zu Beginn des 3. Jahrtausends in Deutschland zu finden sind.

Über das Buch „Brennendes Oderland – Überarbeitete und erweiterte 2. Auflage 2011“ erschien im Internetportal des Heimatkreises Landsberg an der Warthe eine ausführliche Buchbesprechung von besonderem Gewicht aus der Feder eines Fachmannes, Herrn Ulrich Schroeter, Oberst a. D. der Bundeswehr.

Weil es sich nicht besser formulieren ließ, sind aus der Rezension des Herrn Schroeter Textteile in diese Laudatio übernommen worden.

Verehrte Gäste, mein lieber Fritz,

damit komme ich zur Aushändigung der Medaille und der Urkunde des Johannes-Preises an den Preisträger.