Gerade mal 13 Jahre war ich alt, als ich Mitglied wurde. Nun bin ich mit 77 Jahren wohl der letzte Zeitzeuge, der über dieses kleine Paradies auf der Lünette "August Wilhelm" vor dem Kietzer Tor der Küstriner Altstadt berichten kann. Mein Schwager, Schirrmeister beim Pionierbatallion in der Neustadt, mußte 1939 in den Krieg ziehen und hatte keine Verwendung mehr für sein Klepper-Faltboot. So überließ er es mir, und ich bin mit ihm immer auf den Gewässern von Oder und Warthe unterwegs gewesen, wenn ich nur ein bißchen Zeit hatte.
1943 wurde auch ich Soldat und als ich 1946 aus englischer Kriegsgefangenschaft zurückkehrte, war die Lünette in polnischer Hand, die Festungsanlage relativ gut erhalten; aber die Gebäude des Clubs zerstört und mein Klepper-Faltboot verbrannt.
Die Lage dieses Clubs war einzigartig, rings vom Festungsgraben umgeben, der zur Oder einen verschließbaren Durchlaß hatte. Das Tor konnte so bei drohendem Hochwasser geschlossen werden. Die Festungswälle gaben Windschutz und schirmten den Außenlärm ab. Der Festungsgraben war mit der unter Naturschutz stehende Wassernuß dicht besetzt. Bis zum Durchlaß war für uns immer nur eine schmale Fahrrinne frei. Im Halbkreis des Lünetteninneren stand der große Bootsschuppen mit einer kleinen Werkstatt und das kleinere Wirtschaftsgebäude mit Küche. Gegründet wurde der Club von Herrn Luley. Er war Besitze einer kleinen Druckerei in der Predigergasse in Küstrin-Altstadt. Später übernahm der Drogist Erich Hase den Vorstand. Beide sind 1945 als Volkssturmmänner bei der Verteidigung ihrer Heimatstadt Küstrin gefallen. Dieser Artikel soll auch dazu dienen, das Andenken dieser wackeren Männer zu bewahren.
Die ca. 30 Mitglieder waren sehr gesellig. Es wurde nicht nur gemeinsam gepaddelt, es gab auch immer wieder Anlaß zum Feiern. Im Sommer lieferte Frau Schwerdtner von der bekannten Eisdiele gleich nebenan in einem anderen Festungsgemäuer spezielle Eisbomben mit besten Zutaten für den Club. Und immer wieder erfreute uns Frau Hase mit ihrer berühmten Apfeltorte mit reichlich Schlagsahne.
Selbst im Winter war der Club oft besetzt. Wenn der Festungsgraben zugefroren war, konnte man hier rings um die Lünette Schlittschuh laufen, wobei die Wälle für idealen Windschutz sorgten. Eine so wunderbare Eisfläche vor der Haustür - wer hatte das sonst? So war hier sehr reges Leben, und wir konnten dann durchaus mit dem Betrieb auf dem Neustädter Kaiserkolk konkurrieren. Im Clubgebäude konnte man sich aufwärmen und wieder war es Frau Hase, die Frau des Vorstandes, die uns dann mit heißem Tee erfreute.
Richtig reges Leben aber war hier im Sommer. Wasser, überall Wasser, man konnte jeden Tag eine andere Tour unternehmen. Um auf der Oder stromauf zu kommen, mußte man sich ganz schön anstrengen. In den Buhnenfeldern nahmen wir Anlauf und kamen dann ganz gut um die Buhnenspitzen herum. Wir hängten uns aber auch oft an die Schleppzüge und ließen uns stromauf ziehen. Einfacher ging es stromab. Hatte man die Warthemündung erreicht, paddelten wir in der Warthe stromauf wesentlich leichter. Wollten wir aber in die Warthewiesen und hatten eine längere Tour vor, dann trugen wir die Boote die paar 100m durch die kleine Glacis. Dort gab es am Kietzerbusch Bahnhof einen Durchlaß zu den vielen Wasserläufen des Warthebruches. Eine beliebte Tagestour ging nach Priebrow, einem kleinen Fischerdorf vor Sonnenburg, heute Slonsk. Mein Bruder erzählte mir damals, daß er mit seiner Frau bei hohem Wasser sogar die Lenze bis zum Sonnenburger Schloß emporgepaddelt wäre. Dort hatte eine Tante eine Landwirtschaft, bei der sie dann übernachteten.
Zwischen Warthe und Oder gab es von Tschernow nach Säpzig einen breiten Graben. Auch das war eine beliebte Tagestour. Allerdings mußte man das Boot samt Ausrüstung auch hier ein paar Meter tragen. Dieser Graben ist noch heute vorhanden, scheint aber stark verwachsen zu sein. Nicht ganz ungefährlich waren die Touren, wenn die Warthewiesen ganzflächig überschwemmt waren und nur noch ein paar Bäume und Sträucher aus dem Wasser ragten. Kam dann Wind auf, gab es Wellen bis zu 2m Höhe.
Die überaus reiche Tierwelt dort muß man erleben, das kann man gar nicht beschreiben. Sie hat sich bis heute erhalten. Die Ruhe nach den Krieg hat hier noch belebend gewirkt. Die Polen haben das gesamte Gebiet nun unter Naturschutz gestellt. Hoffentlich lassen sie eine kleine Nische für die Wasserwanderer und andere Naturfreunde.
Kehren wir zum Club zurück. Viele Jugendliche und Kinder verlebten dort mit ihren Eltern ihre Freizeit. Herr Hase, der Vorstand, wollte unsere Freizeit sinnvoll gestalten. Er schmiedete große Pläne und gewann unser Interesse. Als Drogist hatte er die nötigen Beziehungen, ohne die ging damals schon nichts mehr. Wir bauten mit ihm einen Vierer-Rennkajak. Jede freie Stunde verbrachten wir nun in der Werkstatt und hatten viel Freude dabei. Herr Hase war ein strenger aber sehr beliebter Lehrmeister mit viel Verständnis für uns Jugendliche. Es gab Rückschläge; aber eines Tages war es dann doch geschafft. Ulla Hase, seine Tochter, schreibt mir in einem ihrer Briefe über die Probefahrt: "Ich kann mich sehr gut an den Vierer-Kajak erinnern. Habe ich doch selbst helfen müssen, ihn zu bauen, mußte hineinkriechen, so daß Vater nieten konnte. Doch nun etwas, was sicher ein Lächeln Deiner Seite hervorzaubern wird. Ich war als erste Freiwillige dabei, als der Viersitzer ausprobiert wurde. Er war nicht wasserdicht und schon nach einer Viertelstunde auf der Oder füllte er sich. Wir landeten alle sicher, aber wir saßen im Wasser auf unseren Sitzen und Vater mußte nachdenken, das Problem zu lösen. Es gab viel Gelächter, als wir alle mit nassem Po landeten."
Zum Trainieren für ein Rennen kam es noch; aber dann wurde einer nach dem anderen von der Mannschaft zum Wehrdienst eingezogen. Umsonst war die Arbeit trotzdem nicht, haben wir doch viel dabei gelernt.
Aus ist es nun mit diesem fröhlichen Treiben. Der Krieg hat auch diese Idylle zerstört. Alles fließt - nichts ist ewig. Aber es gibt Wiederholungen. Und so glaube ich, daß auch die Polen eines Tages dieses schöne Fleckchen Erde neu beleben werden. Es wird dann ein polnisches Lachen sein, mehr wohl ein europäisches, das hier erklingt. Und das tröstet mich über den schweren Verlust hinweg.
Rudi Vogt