Im Gegensatz zu den anderen Toren der Küstriner Festung gab es keine Ansiedlungen vor dem Kietzer Tor. Dafür war einfach kein Platz vorhanden. Gleich hinter dem Festungsgraben gabelte sich die Straße in die Chausseen nach Göritz entlang der Oder und nach Sonnenburg entlang den Warthewiesen. Außerdem zweigte ein Promenadenweg, die Kleine Glacis, ab. In Richtung Göritz folgte erst nach ca. 1 km die Ansiedlung "Bienenhof", in Richtung Sonnenburg nach ca. 500 Meter der Bahnhof Kietzerbusch. In einem kleinen alten Festungswerk vor dem Tor gab es die Eisdiele Schwerdtner. Das Gelände war unübersichtlich, mit Büschen und Bäumen bestanden, im Frühjahr und Herbst teilweise überschwemmt.
Für uns Altstädter Jungen waren das ideale Spielplätze; wir konnten ungestört herumtoben, Buden bauen und in den Ferien die Zeit am Wasser vertrödeln. Fast alle Familien hatten 4 bis 5 Kinder; und die Eltern hatten nur wenig Zeit, sich um ihre "Gören" zu kümmern.
Schwerdtners Eisdiele zog besonders im Sommer und an den Wochenenden viele Besucher an. Wir Kinder bekamen bereits für einen Groschen (1 Zehn-Pfennig-Stück) eine große Eiswaffel. Es gab noch keine elektrischen Eismaschinen. Zerkleinertes Stangeneis wurde in große Bottiche geschüttet, in deren Mitte dann die flüssige Eismasse in einem Behälter maschinell gedreht und dabei zu Speiseeis abgekühlt wurde. Im Winter hatten wir zugesehen, wie dieses Stangeneis von den "Eismännern" auf den Gewässern geschlagen wurde. Zuerst wurden mit äxten Löcher in das Eis gehauen und dann große Platten herausgesägt. Am Eingang zur Kleinen Glacis wurden die Eisplatten per Hand meterhoch gestapelt und dann mit einer dicken Schicht Sägespäne und Holzabfällen abgedeckt. Das wiederholte sich jeden Tag, bis das Eis auf den Gewässern brüchig geworden war. Diese Eismiete wurde dann im Sommer abgetragen, und nicht nur die Eisdiele Schwerdtner war ein guter Kunde. Auch die Hotels und Gaststätten waren auf dieses Eis zur Kühlung von Speisen und Getränken angewiesen. Daß man dieses Eis solange dort bei sommerlichen Temperaturen halten konnte, wundert mich heute noch.
Das Gelände am Eingang zur Kleinen Glacis war auch der Stellplatz für die Zigeuner. Da sie stets dort rasteten, mußten ihnen die Stadtväter diesen Ort wohl zugewiesen haben. Meist waren es nur kleine Gruppen mit 4 bis 5 Wagen. Von dort zogen sie dann am Tage durch die Stadt und boten ihre Waren an, bunte Tücher, Teppiche, Kunstgewerbeartikel u.a.m.. Sie musizierten auch und tanzten, und nicht selten führten sie einen Tanzbär oder kleine äffchen mit. Die Männer trieben Handel mit Pferden, die Frauen betätigten sich als Wahrsagerin und konnten die Handlinien deuten und daraus den Menschen ihre Zukunft voraussagen. Obwohl meine Mutter nichts von den Zigeunern hielt, kaufte sie doch einmal einen kleinen Windhund aus Carrara-Marmor von ihnen, der lange Jahre unsere Anrichte in der "guten" Stube schmückte. Und immer hatten wir die absurde - mir heute völlig unverständliche - Warnung unserer Eltern in den Ohren: "Hütet Euch vor den Zigeunern; sie nehmen kleine Kinder mit und verkaufen sie dann." Das aber schreckte uns überhaupt nicht, zog uns eher unwiderstehlich an. Am Abend saßen wir dann in der Sonnenburger Chaussee und schauten in die Wagenburg der Zigeuner hinab. Die saßen am Lagerfeuer; ihre Geigen klagten oder jauchzten in wilden Tönen; und wenn sie gar tanzten, spürten auch wir den Rhythmus fremder Welten in uns.
Immer wieder zog es uns zu den Fischern und ihren Kähnen. Es gab einen kleinen Durchlaß durch den Eisenbahndamm am Kietzer Tor. Dahinter breiteten sich die weiten Wasserflächen der Warthewiesen aus, an deren Ufern die Fischer ihre Kähne vertäut hatten. Wir schauten ihnen zu, wenn sie ihre Netze einholten oder auslegten. Mancher Krebs und ungewollte Fang fiel auch für uns ab. Die Fische haben wir meist an Ort und Stelle über offenem Feuer geröstet und sofort verzehrt. Aber wir angelten auch mit selbst hergestelltem Angelgerät. Ich kann mich nicht erinnern, daß uns jemals jemand nach der Angelkarte gefragt hat. Es gab Fische im Überfluß. Heute ist alles so kompliziert, so geregelt geworden. Nichts ist mehr wie früher; und nie mehr werden Kinder so frei und ungezwungen aufwachsen, wie wir damals.
Rudi Vogt