Es gibt unauslöschliche, die man mit ins Grab nimmt. Als kleiner Junge habe ich eine blutige Schlacht zwischen Nazis, Reichsbannern (SPD) und Kommunisten in der Kommandantenstraße der Küstriner Altstadt im Gedächtnis. Vor und in der Gaststätte Pahl war man sich in die Wolle geraten. Wir waren damals zu klein, um zu begreifen, warum sich unsere Väter und Brüder die Köpfe blutig schlugen. Der Gastwirt Pahl hatte nach 1945 eine kleine Gastwirtschaft in einer Baracke auf dem Werbiger Umsteigebahnhof aufgemacht. Als erwachsener Mann kam ich mit ihm über diese Ereignisse ins Gespräch und machte mich schlau. Am Ende der Weimarer Republik drohte Deutschland im Chaos zu versinken. Da zählten keine Argumente mehr, man wollte seine politischen Gegner eher totschlagen. Am Ende waren es leider die Nazi- Schläger, die die Oberhand auf den Straßen gewannen und Deutschland in ein noch größeres Chaos stürzten.
Ungefähr 10 Jahre alt muß ich gewesen sein, als ich die schrecklich verzerrten Judenbilder des "Stürmer", einer Nazi- Zeitung, in einem Schaukasten auf dem Altstädter Marktplatz zu sehen bekam. In Erinnerung habe ich, wie mich meine Mutter immer am Ärmel wegzog, wenn ich vor diesem Kasten an der Straßenbahnhaltestelle stand. Sie war Stammkunde bei Danziger, einem Juden, der im 1.Weltkrieg als Offizier auf deutscher Seite gekämpft und als Tapferkeitsauszeichnung das eiserne Kreuz erhalten hatte. Er hatte eine auffällig hübsche Tochter, der wir schon als kleine Jungen nachschauten.
Und wie entsetzt war ich, als ich eines Tages Zeuge wurde, wie man dieses Mädchen grob mit ihren Eltern und ein wenig Gepäck auf die Pritsche eines Lastwagens zerrte. Ein paar Leute hatten sich versammelt und bekundeten ihr Mitleid. Die Polizei zerstreute sie rasch. Das Schicksal der Danzigers war noch lange Gesprächsstoff in unserer Familie. Menschen wie du und ich, wo sind sie geblieben?
Freundlichere Erinnerungen sind mir vom Trockenplatz hinter den Wällen am Kietzer Tor geblieben. Dort stand unter anderem die alte katholische Kirche, die Herberge "Zur Heimat" und das Feuerwehrdepot. Die Herberge war eine billige Unterkunft für Wandergesellen, Bettler, Musiker und Händler aller Art. Bestaunt haben wir die Wandergesellen in ihren bunten Trachten und ganz besonders die Zimmergesellen mit ihren breiten Hüten. Und immer waren wir Kinder dabei, wenn die Feuerwehr übte oder gar die Sirenen heulten und ein Einsatz bevorstand. Die Feuerwehrwagen und Spritzen wurden damals noch von Pferden gezogen. Die Gespanne stellten zwei Konkurrenten, die Kohlenhändler Klebe und Zorn. Ertönten die Sirenen, dann spannten sie die Pferde aus - wo auch immer der Kohlenwagen gerade stand - und rasten mit den Gespannen über das Kopfsteinpflaster der Altstadt zum Trockenplatz. Dann sprühten nur so die Funken beim Berühren der Hufeisen und des Geschirrs mit den Granitsteinen. Es war ein aufregendes Bild. Jeder wollte der erste am Spritzenhaus sein. Dieser Wettbewerb gehörte zur Berufsehre und wurde leidenschaftlich und immer aufs Neue ausgetragen. Gebraucht wurden beide Gespanne. War der Einsatz beendet, dann hingen die Schläuche tagelang zum Trocknen am Turm des Feuerwehrdepots.
Vom Trockenplatz aus hatte man auch Zugang zum "Käsekeller". Warum dieses Gewölbe innerhalb der südlichen Festungsmauer so hieß, kann ich nicht ergründen. Eine Treppe führte hinab, und der Eingang war durch eine Tür und ein Vorhängeschloß verschlossen. Immer wieder wurde diese Tür aber auch aufgebrochen. In dem finsteren Raum hingen die Fledermäuse an der Decke und hielten ihren Winterschlaf. Wir Jungen hatten weder Angst vor Ratten, Mäusen und Spinnen noch vor diesen Tieren. Wir berührten und untersuchten sie, haben aber niemals welche gequält oder getötet. Der Begriff Naturschutz war damals unbekannt. Es gab Fledermäuse überall, und in den späten Abendstunden konnte man sie bei ihrem seltsamen Zickzackflug beobachten, wie sie auf Insektenfang gingen. Erst unsere Zeit hat es mit sich gebracht, daß auch Fledermäuse vom Aussterben bedroht sind. Unsere Welt ist ärmer geworden.
Rudi Vogt