Meine hohle Gasse war die Warnicker Straße in Küstrin-Neustadt. Und wie Wilhelm Tell damals kannten die Neustädter Jungen nicht nur den Ort, sondern auch die Zeit, in der ich kommen musste. In den drei Stadtteilen hatten sich unter den Jugendlichen bestimmte Cliquen herausgebildet, die nicht gut aufeinander zu sprechen waren. Um mein Leben musste ich nicht fürchten; aber das tägliche Spießrutenlaufen war nicht viel besser. Ich war fast wehrlos, denn in meinen Händen hatte ich den Essentopf für meinen Vater, den mir meine Mutter anvertraut hatte; und der musste unbeschadet und das Mittagessen möglichst noch warm ins Ziel gebracht werden.
Im Herbst flogen die Kastanien, im Winter die Schneebälle und zwischendurch auch mal ein Stein. Böse Reden und dumme Witze musste ich mir allezeit anhören. Dass sie mich überhaupt passieren ließen, hing wohl mit der Vorfreude auf den nächsten Tag zusammen.
Mein Vater hatte im 1. Weltkrieg schwere Verwundungen erlitten und als Kriegsinvalide bei der Bahn einen sicheren Posten erhalten. Er hatte die Schranke in der Nähe der Warnicker Unterführung am Stadtausgang zu hüten. Nacheinander mussten ihm seine vier Söhne das meist karge Mittagessen bringen. Der graue Emailletopf mit Deckel wurde durch einen wollenen Strickstrumpf geschützt. In dem Bahnwärterhäuschen an der Strecke stand ein kleiner Kanonenofen, auf dem sich mein Vater das Essen aufwärmen konnte. Wir waren ungefähr eine halbe Stunde zu Fuß unterwegs. Im Sommer schlang er das Essen meist lauwarm herunter, weil keine Möglichkeit zum Aufwärmen vorhanden war. In der Familie gab es nur ein Fahrrad, das mein Vater allein benutzte und wie seinen Augapfel hütete.
Schon meine Brüder hatten vor mir gemurrt, wenn sie im Sommer bei bestem Badewetter den Topf in die Hand gedrückt bekamen. Als ich dann an der Reihe war, hatte er schon ein paar kleine Beulen und kleine schwarze Flecken, wo die Emaille abgeplatzt war. Wie alles andere liegt er heute irgendwo unter den Trümmern der Küstriner Altstadt. Dabei hatte er sicher einen Ehrenplatz verdient. An ihm hat sich das bekannte Sprichwort: "Der Topf geht solange zu Wasser, bis er bricht" nicht erfüllt.
Nun war ja nicht immer Badewetter. Hin und wieder war es ganz schön interessant an der Bahnstrecke, wenn die vielen Züge vorbeifuhren. Mein Vater kannte alle Bauern der Umgebung, die seinen übergang passieren mussten und wurde von allen Leuten freundlich begrüßt. Manchmal öffnete er auch die schon geschlossene Schranke, wenn es ein Bauer in der Erntezeit eilig hatte. Das war natürlich streng verboten, und wenn es der Lokomotivführer noch wahrgenommen hatte , ließ er drohend die Dampfpfeife heulen. Aber so gewann sich mein Vater Freunde unter den Bauern. Und da kleine Geschenke die Freundschaft erhalten, fiel auch schon mal ein Geschenk für ihn ab, ein Kürbis vielleicht, in der Schlachtezeit eine Kanne Wurstsuppe mit einem Stück Wellfleisch u.a.m.. Er revanchierte sich mit selbst hergestellten Kohlenanzündern. Dafür schnitzte er ca. 15 cm lange Holzspäne, die er in einen Bottich mit Petroleum stellte. Wenn die sich vollgesogen hatten, waren das die besten Feueranzünder, die ihm die Bauern gern abnahmen. Auch bei uns zu Hause stand immer solch ein Topf mit Spänen bereit, und meiner Mutter ist beim Anzünden der Kohlen in unseren Kachelöfen nie das Feuer ausgegangen.
Das Petroleum war eigentlich für die Signallampen gedacht, die mein Vater zu betreuen hatte. Die wurden damals in der Weimarer Republik noch nicht elektrisch betrieben. Bevor die Dämmerung einsetzte, musste sie der Schrankenwärter in einer Zugpause anzünden und an den Signalmasten mit Hilfe einer Kurbel in die richtige Position bringen. Vor jedem Bahnwärterhäuschen stand eine große Signalglocke. Alle Züge wurden durch das Läuten dieser Glocke angekündigt. Hin und wieder tickte auch der Morseapparat und übermittelte Nachrichten. Die Signaldrähte liefen überirdisch von Mast zu Mast. Wenn sie dann beim leisesten Luftzug zu tönen anfingen, weckte das in mir einen unbeschreiblichen Drang in die Ferne. Dazu trugen wohl auch die Zugvögel bei, die sich im Herbst vor ihrem Abflug auf den Drähten versammelten.
Fast alle Schrankenwärter - so auch mein Vater - hatten längst des Bahndammes ein paar Quadratmeter Land kultiviert und einen kleinen Garten angelegt. Wenn er dann fleißig beim Unkrauthacken war, habe ich ihn oft rennen sehen, nachdem die Glocke das Nahen eines Zuges angekündigt hatte. Hinter seiner Hütte lag stets ein großer Stapel Eisenbahnschwellen aus Hartholz. Da half kein Jammern, wenn mein Vater Zeit zum Sägen hatte, weil nur wenige Züge erwartet wurden, dann musste ich dableiben und ihm helfen . Da holte ich mir manche Blase an den Händen und durfte nicht murren. Zum Abschluss musste ich dann noch ein großes Bündel Kleinholz mit nach Hause tragen. In solch einem Bündel hatten sich manchmal auch ein paar Kohlen verirrt, die mein Vater seinem Wintervorrat abgezwackt hatte. Er selbst kam natürlich auch nie mit leeren Taschen nach Hause; ein treusorgender Vater sorgt unentwegt für die Familie und im Sommer schon für den Winter.
Dass er deswegen im Winter nicht frieren musste, das wusste er natürlich. Die Heizer auf den Lokomotiven hatten immer mal eine Schippe Kohlen übrig, wenn sie von den Schrankenwärtern mit einer nicht mißzuverstehenden Gebärde dazu aufgefordert wurden.
Mein Vater hatte schon längst das Zeitliche gesegnet, als ich Gerhard Hauptmanns "Bahnwärter Thiel" in die Hände bekam. Das Verständnis für meinen Vater kann nun durch nichts mehr erschüttert werden.
Rudi Vogt