Ein Reisebericht von Siegfried Neubauer
Mit einer Woche Verspätung konnte unsere diesjährige Vereinsfahrt, die schon seit Jahren zu einer stehenden Einrichtung geworden ist, gestartet werden. Die Verschiebung war deshalb notwendig geworden, weil zu viele Vereinsmitglieder eine Woche vorher unabkömmlich waren. So konnte unser großer Reisebus fast vollständig mit denen gefüllt werden, die auch jenseits der Küstriner Stadtgrenze ihre einstige Heimat erkunden wollten.
Da sich diesmal keine Berliner angemeldet hatten und auch andere nicht für die Anreise den Zug benutzten, konnten alle in der Nähe des Kulturhauses den Bus besteigen, was gerade für die älteren Mitglieder eine große Erleichterung war, brauchten sie doch nicht den Bahnübergang mit den unzähligen Treppenstufen bewältigen.
Der Grenzübertritt verlief wie gewohnt reibungslos. Bereits nach ein paar Minuten waren Personalausweise und Reisepässe von den Grenzbeamten gecheckt.
Zunächst ging es über Göritz in Richtung Slubice (FF-Dammvorstadt), wo Herr Helbig, ein gebürtiger Crossener, und Horst Herrmann, der jetzt in Frankfurt/O wohnt, zustiegen. Der Wettergott hatte ein Einsehen und spendierte uns während der ganzen Tour wohlige Wärme und viel, viel Sonnenschein. Gegen 11 Uhr erreichte unser Bus bereits die obere Stadt (Crossen-Neustadt) und hier konnten sich alle die eingeschlafenen Beine vertreten. Vom "Balkon", dem ehemaligen Friedhof der Stadt, der, wie auch der Küstriner Friedhof an der Zorndorfer Straße (Alter Mann), von den Polen zu seinem Park umfunktioniert worden ist, hatte man einen herrlichen Blick über die verträumt hinfließende Oder zur Crossener Altstadt. Horst Herrmann (links) und unser Vereinsvorsitzender Martin Rogge (Foto) diskutieren anhand eines alten Stadtplans, was noch von der Altstadt stehen geblieben ist.
Die originelle Elisenbrücke (Foto) muß jedenfalls den Krieg überlebt haben, ist es doch die gleiche Brückenkonstruktion, die man noch auf alten Ansichtskarten sehen kann. Von den einstmals stolzen Bürgerhäusern hat nur die Marienkirche den mörderischen Krieg überstanden.
Dann ging es mit dem Bus hinunter in die Altstadt auf den ehemaligen Marktplatz. Pikiert schauten dort diejenigen auf das klobig-protzige Denkmal (Foto), die dank polnischer Sprachkenntnisse die metallenen Lettern lesen konnten: "Hier waren wir, hier sind wir, hier werden wir immer sein" (frei übersetzt).
Gewissermaßen als Pendant zu dem monströsen, pathetischen Denkmal erhebt sich gegenüber die barocke Marienkirche (Foto). Von dem Inneren der Marienkirche, die nun besichtigt werden sollte, konnte jeder nur einen flüchtigen Blick erhaschen, war doch nur der Vorraum zugänglich und ein gewaltiges Gitter versperrte den weiteren Zutritt in das sehenswerte Kirchenschiff. (Diebstahl in Gotteshäusern ist bekanntlich eine weitverbreitete polnische "Sportdisziplin". Viele sagen sich wohl, die wertvollen Heiligenfiguren sind uns näher als die unbewiesenen metaphysischen Spekulationen über die Strafen im Jenseits. Und sollen schließlich die Beichtstühle in den Kirchen nur für die betagten Mütterleins errichtet sein, sollen dort nur läßliche Sünden dem Priester ins Ohr geflüstert werden?)
Wenige Schritte hinter der Kirche konnten die Ruinen des ehemaligen Schlosses betreten werden und ein kleines Museum erinnerte an die einst glorreiche Vergangenheit.
Crossen wurde wohl nicht zuletzt auch deshalb als Ausflugsziel gewählt, weil es wie Küstrin eine Garnisonstadt war und vier Kasernen hatte. Eine dieser Kasernen konnte im Vorbeifahren "besichtigt" werden. Wer besonders mutig war und keine Angst hatte, daß sein Photoapparat vom Wachpersonal konfisziert werde, stieg sogar aus und fotografierte die Hl. Barbara (Foto) am Eingang des Kasernentors. Sie versteckt sich etwas hinter einem schattenwerfenden Baum, weil ihr die zugeteilte Rolle wohl doch etwas zu heikel erscheint.
Wir Pazifisten waren jedenfalls alle verwundert, wie eine Heilige zur Schutzpatronin der Artilleristen aufsteigen konnte. Im "Großen Buch der Heiligen" (Südwest-Verlag) heißt es: "Ihre Fürbitte gilt jedem jähen und unversehenen Tod. Vielleicht ist sie deswegen auch zur Schutzpatronin der Artillerie geworden." Aber die Artilleristen sind nur eine von vielen Berufsgruppen, denen sie besonderen Schutz gewährt. Schließlich wird sie auch der Gruppe der Vierzehn Nothelfer zugeordnet. Es wären da noch zu nennen: Die Sterbenden, die Bauern, die Bergleute, die Hüttenarbeiter und Architekten, überhaupt alle Arten von Bauarbeitern, ferner die Glöckner, die Büchsenmacher, die Hutmacher, die Modisten und Köche, die Totengräber, sowie die Feuerwehr. Da ihr Fest am 4. Dezember gefeiert wird, ist sie auch gleich zur Gefährtin des Hl. Nikolaus avanciert, dessen Gedenktag bekanntlich der 6. Dezember ist, und hat ihm an vielen Orten die Arbeit des Bescherens von Kindern abgenommen. Bei so vielen Schutzbefohlenen wird sie bestimmt nicht arbeitslos werden! Da nach diesem Besichtigungsstreß schon allen der Magen knurrte, waren alle froh, als es endlich mit dem Bus in ein Seen- und Waldparadies nach Deichow (Dychów) ging, wo in einem Luxus-Hotel für jeden ein mehrgängiges Gedeck wartete (Foto). Es war wohl die beste Speisenfolge, die uns bis jetzt auf unseren Vereinsfahrten serviert wurde; jedoch war der Preis von 45 Zl zwar für ein deutsches Portemonnaie leicht zu berappen, aber für polnische Geldbeutel doch relativ hoch. Die Vegetarier unter ihnen mußten ebenfalls ihre Zähne in die dicken Kasseler Bratenscheiben vergraben. Es soll daran keiner gestorben sein.
Nachdem sich alle gestärkt und rundum gesättigt waren, konnte jeder, der wollte, noch einen kleinen Verdauungsspaziergang rund um das Hotel machen. Nicht nur waren eine Tennisanlage und ein Minigolfplatz zu entdecken, sondern bestaunt wurden auch am Ufer der aufgestauten Bober die Solaranlagen (Foto), die zwar in Deutschland schon mannigfache Verbreitung gefunden haben, aber in Polen doch immer noch recht selten zu sehen sind.
Nachdem alle im Bus wieder Platz genommen hatten, fuhren wir einige hundert Meter zum nahegelegenen Wasserkraftwerk, in dem mit dem aufgestauten Wasser schon zu deutschen Zeiten elektrischer Strom gewonnen wurde. Diese Deichowtalsperre bei Deichow (Dychów) liefert zehnmal so viel Strom wie die Mauertalsperre bei Mauer (Pilchowice), die wir nur vom fahrenden Bus aus in weiter Ferne erblicken konnten.
Anschließend ging es wieder in Richtung Heimat, um in Slubice die Frankfurter auszuladen. Dank unseres aus Crossen gebürtigen Reiseführers Herrn Helbig, war dieser Tag für alle, die den instruktiven Informationen über seine Vaterstadt folgten, ein bleibendes Erlebnis. Hinter Slubice machte der Bus noch einen Schlenker über das Dorf Säpzig, damit auch alle die, die das hinter einer Waldhecke verborgene Fort noch nicht kannten, einen kurzen Blick von diesem gewaltigen Bauwerk erhaschen konnten. Die in luftigen Höhen nistenden Bewohner, die den Ruhm dieses Dörfchens Tschernow (Czarnów) weit über das Warthebruch hinaus verbreiten, waren nur gelegentlich zu erblicken. Vielleicht waren einige Störche schon auf Weltreise in Richtung Afrika unterwegs.
In Küstrin-Kietz konnten sich einige bereits am Eisenbahntunnel, der wegen der Schließung des Bahnübergangs in Richtung Bleyen für Fußgänger und Radfahrer bald eine größere Bedeütung erlangen wird, verabschieden. Das Gros verließ am Kultürhaus wieder den Bus. Dieser erlebnisreiche Tag war für alle Teilnehmer eine große Bereicherung ihres Wissens um ihre angestammte Heimat. So konnte die ehemals deutsche Stadt Crossen an der Oder wenigstens uns dem auszehrenden Vergessen entrissen werden.